Wiedervorlage:
135 Jahre WV 23. März 1889

Vor 135 Jahren am 23. März 1889 diskutierte der Reichstag auch über den Schutz der Genossenschaftsmitglieder vor ihren Verwaltungsorganen. Dieser Vorgang ist noch heute Gegenstand unserer Wiedervorlage (WV 23.März).

WV 23. März ist auch das Motto unserer Motivserie Mensch Wilhelm WV 23. März 1889. Die Anlehnung an die Werbekampagne “Mensch Raiffeisen” war beabsichtigt.

Fest steht, dass letztlich zum Schutz der Genossen die Gründung der genossenschaftlichen Prüfungsverbände initiiert wurde.

Die Hintergründe sind hier aufgearbeitet, die Zitate wurden dem  Original Protokoll entnommen.

Gerne wird hier in der genossenschaftlichen Diskussionen das historische Datum des 23. März 1889 angeführt, als eine Sitzung, in der sich der Reichstag mit dem Thema „Schutz der Genossenschaftsmitglieder vor ihren Verwaltungsorganen“ beschäftigt haben soll. Aber ist das so? Unter dem Link  http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_7_bsb00018654_00375.html, S. 1019ff sind die Sitzungsprotokolle öffentlich einsehbar. Der entsprechende Tagesordnungspunkt lautet: „zweite Berathung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften (Nr.28 der Drucksachen), aufgrund des Berichts der VII. Kommission (Nr. 132 der Drucksachen)“.  Es geht also um eine Beratung, bei der eine zuvor gebildete Kommission die Gesetzesvorlage ausgearbeitet hat. 

Der Abgeordnete von Rheinbaben spricht die einführenden Worte, welche den Rahmen der Kommissionsarbeit darlegen: 

„……Die Hauptaufgabe der Kommission war die, zwischen den verschiedenen, einander entgegenstehenden, aber doch nicht sich ausschließenden Interessen, die hier in Fragen komme, das Gleichgewicht herzustellen…… 

Es wird deutlich, dass es angesichts der wachsenden Zahl der Genossenschaften und der unterschiedlichen Größe und Ausrichtungen durchaus Unterschiede gibt, denen man mit dem Gesetzentwurf Rechnung tragen will. 

Auf der einen Seite waren die Bedürfnisse der ländlichen Genossenschaften zu berücksichtigen, auf der anderen die Interessen der gewerblichen Bevölkerung in den Städten. Hier die Sicherung der Rechte des Gläubigers, – dort der Schutz des Genossen, nicht bloß gegenüber dem Gläubiger, sondern auch gegenüber den Verwaltungsorganen der Genossenschaft selbst; hier die Freiheit der Genossenschaften, ihre privatrechtlichen Zwecke zu verfolgen, die auf Erwerb und Wirthschaft gerichtet sind, – dort die Nothwendigkeit, diese Freiheit im öffentlichen Interesse zu beschränken, hier der Schutz des wirthschaftlich Schwachen und minder Widerstandsfähigen, – dort die Sorge, daß dieser Schutz nicht zu einer Benachtheiligung der Interessen der Allgemeinheit führe…… 

Kurz blitzt hier die Erwähnung der Genossen auf, die geschützt werden müssen – nicht nur gegenüber dem Gläubiger, sondern auch gegenüber den Verwaltungsorganen der Genossenschaft selbst. Das bezieht sich aber vermutlich weniger auf die Stellung des Genossen als Souverän der Genossenschaft, sondern auf den an späterer Stelle ausgiebig diskutierten Einzelangriff, dessen Betroffene des Schutzes der Genossenschaft bedürften aber anscheinend nicht immer erhalten. Einzelangriff bedeutet, dass jedes Mitglied einzeln von den Gläubigern persönlich haftbar gemacht werden konnte, während ansonsten die Solidarhaftung galt, bei der alle Mitglieder unbeschränkt gegenüber den Gläubigern haften mussten. (vgl. auch Ringle, Günther, Genossenschaftliche Solidarität auf dem Prüfstand, in: Reimers, Hans-Eggert, Hg, Wismarer Diskussionspapiere, 3/2014, Wismar 2014, S. 6, besonders Fußnote 2)

Auch politischen Erwägungen, meine Herren, hat sich die Kommission im Anschluß an einige Bestimmungen der Vorlage nicht gänzlich entziehen können. Den in dieser Beziehung von verschiedenen Seiten geäußerten Bedenklichkeiten hat sie sich indessen nicht angeschlossen. Sie hat entsprechende Bestimmungen der Vorlage abgeschwächt; sie hat Anträge, die nach dieser Richtung hin gestellt wurden, nicht zu den ihrigen gemacht. 

Später werden einige dieser Überlegungen öffentlich gemacht, wenn einer der Kommissionsmitglieder auf die Beschwerden und Einwände mit Genossenschaften  konkurrierender Verbände und Zusammenschlüsse eingeht. Ein Versuch, deutlich zu machen, dass man sich als der Sache verpflichtet gesehen hat. Diesen Sätzen schließt sich ein Vertrauensstatement an, das auch die Grundidee von Genossenschaften formuliert:

Sie (die Kommission, Anm. d.V.) hat geglaubt, daß man Vertrauen zu den Genossenschaften und ihre Verbänden haben müssen und sie war überzeugt, daß die Genossenschaften dieses Vertrauen in Zukunft nicht mißbrauchen würden. Indem so die Kommission bemüht war, die Vorlage der verbündetet Regierungen möglichst von politischem Beiwerk zu entkleiden, erleichterte sie ein fruchtbares Zusammenwirken aller Parteien und gewann den geeigneten Boden, auf welchem sich alle Mitglieder der Kommission ohne Rücksicht auf ihre Parteistellung die Hände reichen konnten, um gemeinschaftlich an der Ausgestaltung eines Gesetzes zu arbeiten, das vorzugsweise den wirthschaftlich Schwachen, des Schutzes bedürftigen Kreisen der Nation Kräftigung und Förderung zu bringen bestimmt ist. ….. ( S.1019)

Es folgt durch den Freiherren Buol-Berenberg die Aufzählung von Petitionen, die anlässlich des Gesetzvorschlages aufgekommen sind (S.2020), die er in Petitionen gegen den Einzelangriff, gegen einzelne Bestimmungen und gegen die Konsumverein unterteilt. (Protokolle, S.2020). So fordern 1157 Genossenschaften die Abhebung des Einzelangriffs, 1874 Petitionen richten sich gegen Strafbestimmungen, Revisionsbestimmungen und die Frage, dass Aufsichtsratsmitglieder keine Tantiemen erhalten sollen. Die Verbandsklagen, besonders der Kaufleute Leipzigs, richten sich gegen die Konkurrenz durch Konsumvereine für Detailhandel und Handwerk und gegen das Nichtmitgliedergeschäft. Viele Petitionen beinhalten auch ein Verbot des Branntweinverkaufs, da Genossenschaften zu Orten der Trunksucht geworden wären. 

Der Abgeordnete Schenk erklärt, dass durch den Gesetzentwurf neben Genossenschaften mit unbeschränkter Haftpflicht auch Genossenschaften mit beschränkter Haftpflicht zugelassen werden (S.2020ff.). Damit möchte man das Genossenschaftswesen fördert und seine Verbreitung im ländlichen Raum vorantreiben. Anschließend spricht er sich für den Erhalt des Einzelangriffs aus, ein Thema, dass nun ausführlich diskutiert wird. Der Kommissionsvorschlag lautet, den Einzelangriff als Kompromissvorschlag der Entscheidung der Genossenschaft zu überlassen (S.1023). Kreditvereine können nun auch die unbeschränkte Nachschusspflicht wählen. Die Abstimmung geht zugunsten der Kommission aus. (S.1035). Anschließend folgen Diskussionen über Revisionsbestimmungen und die Frage des Nichtmitgliedergeschäfts, während das Thema Trunksucht als nicht relevant ausgeschlossen wird. . 

Von den Genossenschaftsmitgliedern und ihren Organen ist nur noch kurz an späterer Stelle die Rede, als Abgeordneter Freiherr von Buol-Berenberg als Sprecher der Kommission im Zusammenhang mit Regulierungsfrage die Vorwürfe kommentiert, dass die Genossenschaften bürokratisch bevormundet würden. Er vertritt den Standpunkt, dass die Genossenschaften so groß geworden sind, dass mit dem Geschäftserfolg und der Ausbreitung in die Schichten der mittleren und kleineren Leute die Angelegenheiten der Genossenschaften nicht mehr privat, sondern ein öffentliches Interesse darstellen, bei dem 

„verhältnißmäßig geringen Einfluß, den die Einzelnen auf die Geschäftsleitung haben. Ich gebe mich der vollsten Beruhigung darüber hin, daß alle diejenigen, welche jemals das Misere gesehen haben, das in Gegenden eintritt, wo Mißwirtschaft oder gar Verbrechen von Seiten der Vorstandsmitglieder Zusammenbrüche hervorgerufen haben, auch wenn sie einen Einblick nur aus der Ferne in solche Verhältnisse erhalten haben, mit meiner Auffassung über strengere Maßnahmen bezüglich der Beschränkung des Geschäftsbetriebs und der Ueberwachung der Thätigkeit von Genossenschaften sich sehr werden einverstanden erklären können ( ebda. S. 1036). 

Woraus diese Überwachung der Tätigkeit von Genossenschaften bestehen soll, wird auf dieser Sitzung nicht ausgeführt und es wird auch kein Beschluss dazu gefasst. Genossenschaften bleiben damit selbstverwaltete Unternehmen, die dazu dienen, im ländlichen Raum den Kleinen und Schwachen vor einer sich kapitalisierenden Wirtschaft ein Instrument zu geben, sich selbst zu organisieren und ihre Lebensumstände dadurch zu verbessern. Von einer Einführung von Prüfungsverbänden heutiger Ausprägung ist keine Rede und eine Stärkung des Vorstandes gegenüber den Mitglieder, wie es 1934 mit der Einführung des  Führerprinzips stattfindet, dürfte angesichts der anklingelnden Warnungen vor der Misswirtschaft von Vorständen  noch nicht einmal angedacht worden sein. Genossenschaften verbinden sich Ende des 19.Jhs. noch mit der Idee einer Hilfe zur Selbsthilfe, wie sie später in der von Muhammad Yunus begründeten Mikrofinanzbewegung Ende des 20.Jh. wiederauflebt.